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Der Kampf gegen das System beginnt gegen Mitternacht: In Theresas schwarzer Lederjacke steckt ein Tanga, bedruckt mit Hanfblättern. Unter ihrem Pulli verbirgt Josephine die selbst beschriebenen Pappschilder. Lena hat gestern noch Wrestlingmasken aus dem Kostümfundus gekramt. Sarahs Herz klopft. Jung grinst. Sie findet solche Aktionen geil. Die fünf Frauen versammeln sich neben der Tanzfläche. Ein Remix von Flat Beat wummert durch das Foyer des Hauses der Berliner Festspiele. Die Sechste, Carolina, wartet vor dem DJ-Pult, zwischen den Tanzenden, in der Hand ihr Smartphone, bereit zum Filmen. „Gleich passiert was Tolles“, flüstert sie einer Studentin zu, die sie von der Hochschule kennt.
Es ist ein Freitag Mitte Mai 2019, das letzte Wochenende des Berliner Theatertreffens. Das wichtigste deutsche Theaterfestival zeichnet die „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen“ des Jahres aus, unter anderem von den Münchner Kammerspielen oder dem Wiener Burgtheater. Am Abend diskutierten Besucher bei einer Konferenz darüber, dass Männer und Frauen am Theater oft ungleich bezahlt und behandelt würden. Ab 22 Uhr: Party. Der gebuchte DJ: Lars Eidinger – berühmt für seinen Hamlet, berüchtigt für seine Instagram-Storys, bekannt als Ego-Star, als Genie. Für Josephine, Jung, Lena und die anderen steht er für vieles, was im Theater ihrer Meinung nach schiefläuft: Machtmänner, Geniekult, Hierarchie. Sie finden es heuchlerisch und verlogen, dass ausgerechnet er gebucht wurde.
„Ich zähle von zehn runter“, sagt Josephine. Theresa streift sich den Tanga übers Gesicht, die anderen die Wrestlingmasken. Bei null laufen sie zum DJ-Pult. Sie halten Schilder hoch. Auf einem steht: „Komm ich sexuell für dich infrage, Hase?“, ein abgeändertes Zitat von Eidinger. Auf einem anderen: „Practice what you preach!“
Eidinger, eine Spange im Haar, Poesiealbum-Sticker im Gesicht, Kopfhörer auf den Ohren, scheint die Gruppe nicht zu bemerken. Dann schaut er irritiert von den Turntables hoch. Als er sein Smartphone auf die fünf Frauen richtet, tanzen sie von der Bühne. So haben sie es vorher beschlossen. Sie wollen kein Teil seiner Instagram-Inszenierung werden.
Was wirkte wie eine wenig krawallige Pussy-Riot-Performance, war eine Hauruck-Aktion. So erinnern sich die Frauen an den Abend, so sieht man es später auf Videos und Fotos. Sie wollten sich nicht nur über die Buchung Eidingers ärgern, sondern etwas unternehmen.
Eidinger möchte sich dazu nicht äußern. Er wolle momentan nur Presse zu seiner Arbeit machen.
Die Leiterin des Theatertreffens Yvonne Büdenhölzer schreibt, sie hätten ihn unter anderem wegen „seiner Unangepasstheit als Schauspieler“ ausgewählt.
Auch wenn das Video nicht viral ging, nicht alle Partygäste die Pappschilder lesen konnten, für die Frauen war es ein Zeichen: Sie haben als HfS Ultras zugeschlagen.
Die Klasse
„HfS“, das ist die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, eine der berühmtesten Theaterschulen Deutschlands. Die Absol- ventinnen und Absolventen der Busch, wie sie genannt wird, prägen das deutsche Kino und Theater. Unter ihnen sind Schauspielerinnen wie Nina Hoss und Sandra Hüller, Regisseure wie Leander Haußmann und Antú Romero Nunes. Auch Lars Eidinger hat hier studiert.
Die selbsterklärten „HfS Ultras“ sind der 38. Regie-Jahrgang.
Da ist die Komponistin Carolina de Araújo Cesconetto, 26, die aus dem brasilianischen Curitiba nach Berlin zog, weil sie Oper liebt.
Lena Katzer, 25, aus dem hessischen Großkrotzenburg, die gerade als Herrenschneiderin an der Berliner Schaubühne angefangen hatte, als sie sich für das Studium bewarb. Ihr Chef ermutigte sie: „Nähen kannste immer noch, Mädel!“
Die Schauspielerin Eunsoon Jung aus Seoul, genannt Jung, 33, der ihre Arbeit so wichtig ist, dass sie sich im Berliner Krankenhaus mal den Tropf aus dem Arm zog, um zu proben.
Theresa Thomasberger, 27, aus dem österreichischen Tullnerbach, aufgewachsen in Wiener Kellertheatern, die Philosophie und Kreatives Schreiben studierte und heute die größten Textbrocken inszeniert.
Die ehemalige Femen-Aktivistin Josephine Witt, 26, aus Hamburg, die bei einer Weihnachtsmesse auf den Altar des Kölner Doms sprang, „I am God“ auf ihrem nackten Oberkörper geschrieben, um gegen die Missachtung der Frauenrechte in der katholischen Kirche zu protestieren.
Und Sarah Claire Wray, 26, aus Köln, die erst „was Vernünftiges“ studierte, Architektur, aber das Theater liebt, weil, wie sie sagt, hier auch Außenseiter ihren Platz finden könnten.
Die sechs stört es, dass hinter den Vorhängen vieler Theater dieselben Machtstrukturen herrschen, die im Scheinwerferlicht kritisiert werden: dass manche Regieführende sich antiautoritär geben, aber wie Despoten herumkommandieren und erniedrigen. Dass viele im Theater Sexismus und Rassismus für ein Riesenproblem halten, am Ende aber meistens Männer große Rollen und hohe Gagen einstreichen.
Deswegen wirkt das Prinzip der HfS Ultras wie: nach außen Krawall, nach innen Selbstschutz. Ihr Traum, eines Tages zusammen ein Theater zu leiten. Bereits an der Hochschule werden sie ihm näher kommen, als sie es je für möglich hielten. Doch ist die Zeit gekommen für diese Frauen? Oder scheitern sie an den Strukturen, die sie kritisieren?
Der Anfang
„Ich bin nach dem Schauspielstudium in Seoul mit meinem Ensemble in Indien, Japan und Mexiko aufgetreten. Aber ich hatte Durst. Ich wollte nicht mehr Regieanweisungen folgen, sondern selbst entscheiden. Nach Deutschland wollte ich vor allem wegen Bertolt Brecht. Bei der Auswahltagung war ich supernervös, weil meine Übersetzungs-App nicht funktionierte: In der Busch gab es weder Empfang noch WLAN. So schleppte ich zwei Wörterbücher mit, Deutsch-Koreanisch. Ich hatte dann aber überhaupt keine Zeit, irgendwas nachzuschauen. Deswegen sagte ich der Jury: ‚Sehr geehrte Damen und Herren, bitte bewerten Sie nicht meine Sprache, sondern meine Kreativität!'“ Eunsoon Jung
Die Geschichte der Regie-Klasse beginnt an einem Wochenende im März vor mehr als drei Jahren, bei der Zugangsprüfung, der letzten von drei Auswahlrunden. Die sechs Frauen, die später die HfS Ultras werden, bewerben sich alle zum ersten Mal. Sie kennen sich nicht. Alle haben vorher etwas anderes studiert oder gelernt. Sie haben in Theater-AGs gespielt oder in freien Gruppen. Sie sehen sich alle als Feministin. Und sie alle wollen, so vage es klingt, im Theater die Gesellschaft hinterfragen. Sechs aus 127 Bewerbenden muss die Jury für den 38. Regie-Jahrgang auswählen. Sie sollen Theatererfahrung haben und „sensitiv sein gegenüber der Welt“, wie der Regisseur und Professor Thomas Ostermeier sagt. Sein Kollege Robert Schuster ergänzt: „Es hilft, ein paar Einschläge erlebt und ein bisschen was von der Welt gesehen zu haben.“ Nach drei Tagen, in denen die Bewerberinnen und Bewerber etwa eine Szene aus Shakespeares Was ihr wollt inszenieren, diskutiert die Auswahlkommission wie immer mehrere Stunden. Dann beschließt sie: Zum ersten Mal in der Geschichte der Schule werden sie nur Frauen annehmen.
Die Entscheidung passt zum Zeitgeist. Öffentlich für Frauenrechte einzustehen ist en vogue. Beyoncé trat auf ihrer Welttournee vor einem FEMINIST-Leuchtschild auf. Kleidungsmarken von Dior bis H&M druckten „Feminist“ auf T-Shirts. Margarete Stokowskis Buch Untenrum frei wurde zum Bestseller.
Die Frauenklasse der Busch sollte aber kein politisches Statement sein, „kein Konzeptjahrgang“, sagt die Dozentin Britta Geister. Thomas Ostermeier erklärt: „Die waren einfach die Besten.“
Die ausgewählte Gruppe sieht aus, als wäre sie für eine Netflix-Serie gecastet worden, eine toughe Girl-Gang, die auf Instagram in Russenhocke posiert. Und sie haben mindestens „ein paar Einschläge“ erlebt.
Die Klasse ist Arbeiterkind und Akademikerin, Weiße und Woman of Color, Ehefrau, Single und Mutter, Deutsche und Ausländerin. Sie ist bei einem Vater aufgewachsen, dessen Nachnamen sie am liebsten loswerden möchte, und bei einem, der stolz zu jeder Premiere anreist. Sie mag ihre vorlaute Klappe und fürchtet, unintellektuell zu wirken. Sie hat „Hoffnung“ über die Pulsadern tätowiert und „GÄNG“ am Fuß.
Die zukünftige Regie-Klasse bündelt Erfahrungen, die Frauen machen, und bricht Rollenzuschreibungen, gegen die Frauen sich wehren. Dann, am 15. Oktober, sechs Tage nach dem offiziellen Semesterstart, erschüttert ein Hashtag die Welt: #MeToo.
Die Debatte
Anfang Oktober 2017 beschuldigen mehrere Frauen, zuerst in der New York Times, dann im Magazin The New Yorker, den Filmproduzenten Harvey Weinstein, sie vergewaltigt, missbraucht oder sexuell genötigt zu haben. Unter ihnen sind bald auch bekannte Schauspielerinnen wie Gwyneth Paltrow. Unter dem Hashtag teilen vor allem Frauen auf der ganzen Welt ihre Erfahrungen in sozialen Netzwerken. Die #MeToo-Debatte wird schnell grundsätzlich: Wie nutzen Männer ihre Machtpositionen aus? Warum sind sie mit ihrem Fehlverhalten und mutmaßlichen Straftaten durchgekommen? Und wer bestimmt eigentlich was im Film, Fernsehen und Theater?
Ein paar Zahlen:
– Männer inszenieren 70 Prozent der Theaterstücke
– Männer haben 76 Prozent der inszenierten Stücke geschrieben
– Männer leiten 78 Prozent der deutschen Theater
Das ergab eine Studie des Deutschen Kulturrats, welche die Theater zwischen 1994 und 2014 analysiert hat. Die Studie, 2016 publiziert, ist nicht wirklich aktuell. Doch wer durch die Programmhefte der Stadttheater blättert, findet bei Regisseuren und Autoren noch immer vor allem: Männernamen. Als Diagramme erinnern die Statistiken an ein trauriges Kuchenbuffet – sie sehen aus, als hätten sich ein, zwei Frauen ein Stück Torte genommen. Den Rest teilen Männer unter sich auf.
Für die HfS Ultras geht es nicht darum, sich selbst zu ermutigen, mal ein bisschen selbstbewusster zu verhandeln oder sich mehr reinzuleanen, weil die future ja sowieso sicher female wird. Also, sagt Josephine, müsse man die „Paläste der Scheinheiligkeit“ besetzen. Es geht ihnen nicht um „Privatfeminismus“, sondern um Mitbestimmung und flache Hierarchien – Utopien der Arbeit, die verschiedene Theater bereits in den Siebzigerjahren anstrebten. Sie und ihre Kommilitoninnen beginnen dort, wo sie täglich damit konfrontiert sind: an ihrer Hochschule.
Der Auftrag
„Viele sagen: ‚Ihr seid ja diese Frauenklasse, deshalb müsst ihr euch liebhaben.‘ Pfft. In der Schneiderei, wo fast nur Frauen arbeiten, habe ich schon ganz andere Sachen erlebt. In der Klasse verstehen wir uns gut, ja – aber wir arbeiten auch dafür. Wir diskutieren alles aus, abends beim Bier, morgens um zehn Uhr. Das ist anstrengend, langwierig, zäh. Doch ich würde es nicht anders wollen. Wenn wir konkurrieren würden, wäre das schrecklich: Dann würden wir viel Kraft darauf verwenden, anstatt kreativ zu sein.“ Lena Katzer
In der Regie-Abteilung der Busch arbeiten vier Professoren in Teilzeit. Keine einzige Professorin. Die Studentinnen kritisieren das regelmäßig bei der Gleichstellungsbeauftragten und bei Rektor Holger Zebu Kluth. Er erklärt, dass die Hochschule sich des Problems bewusst sei. Nur: Es sei schwer zu ändern. Der Regie-Fachbereich versuche gegenzusteuern. Von 27 Gastdozierenden seien 19 Frauen. Aber die Professoren seien qualifiziert und ihre Stellen auf Lebenszeit vergeben. Außerdem, so hätten es ihm Dozierende erzählt, habe die Hochschule es bei der letzten Runde verpasst, eine Frau einzustellen. Und, das hört man oft, wenn es darum geht: Es sei auch gar nicht so einfach, jemanden zu finden. „Wir suchen als Hochschule eine Professorin, die bereits profiliert ist. Da ist die Frage: Welche Frau verdirbt sich die Karriere, wenn sie gerade genau dort ist, wo es so schwer war hinzukommen? Nimmt sie eine volle Professur an, bricht ihre Regiekarriere einigermaßen zusammen, oder sie macht an der Hochschule nicht wirklich was. Da gibt es einen Geschlechtsunterschied. Bei Männern geht es karrieremäßig viel einfacher weiter, die kommen buddymäßig irgendwo unter. Bei Frauen aber zerreißt das Netzwerk, wenn sie beiseitegehen“, sagt Kluth.
Viele Dozierende teilen die Forderung: „Die Klasse rennt offene Türen ein“, sagt die Dozentin Britta Geister. „Es gibt ein historisch gewachsenes Dilemma, das die Schule sich eingebrockt hat.“
Das Problem: Strukturelle Ungleichheit ist eigentlich immer historisch gewachsen. Die Frage ist, wie man sie ändert. Und was genau man überhaupt ändern möchte. „Wir werden es wahrscheinlich nicht erleben, dass eine Professorin eingestellt wird“, sagt Theresa. Einfacher ist es, wenn es um Geschlechterrollen auf der Bühne geht. Die Klasse ist sich einig, dass sie keine, wie sie sagt, überholten Frauenbilder inszenieren möchte: keine Vergewaltigung als dramatischen Höhepunkt, keine eindimensionalen Huren und Hausdamen, keine „Kakaofrauen“, die sich mit hochgezogenen Schultern an Heißgetränken in bauchigen Tassen wärmen. Doch wie genau man eine unterdrückte Frau inszenieren kann, darüber gehen die Meinungen auseinander.
April 2019, die Frühlingssonne scheint auf den Kurfürstendamm. Regie-Unterricht in einem Proberaum der Berliner Schaubühne. Auf dem Requisitentisch steht Schwarzwälder Kirschtorte. Carolina ist gestern 26 geworden. Es unterrichtet Thomas Ostermeier, 51, blaue Trachtenweste und zurückgekämmte graublonde Haare. Der Leiter der Schaubühne ist einer der wichtigsten Regisseure Europas. Eine Autorität. Die Gruppe soll den 4. Akt von Henrik Ibsens Die Wildente inszenieren, geschrieben 1884. Hjalmar Ekdal erfährt, dass seine Tochter Hedvig möglicherweise nicht seine Tochter ist. Die Studentinnen planen das Bühnenbild. Sie sollen lernen, zu analysieren und den Schauspielerinnen und Schauspielern Feedback zu geben, nachdem diese die Szene selbst interpretieren. Der Schauspieler wütet und brüllt. Die Schauspielerin wimmert und hält sich die Ohren zu.
Sarah verzieht das Gesicht. „Ich will nicht so ein Männerbild sehen“, sagt sie. „Da gibt’s nichts zu sehen außer Gewalt.“
Ostermeier widerspricht: „Das ist doch der Inhalt des Stückes, wenn der ausrastet!“
Sarah: „Das hat mit Reproduktion von Gewalt zu tun. Das ist ein Effekt, billig und kalkuliert.“
Ostermeier: „Nein. Das ist Wirkung.“
Theresa: „Man kann sich auch entscheiden, solche Stücke nicht mehr auf die Bühne zu bringen.“
Lena: „Eben.“
Sarah: „Am Anfang des Stückes räumt sie ihm die ganze Zeit hinterher. Das Weltbild ist doch heute ganz anders als vor 140 Jahren.“
Ostermeier: „Es gibt immer repressive Verhältnisse.“
Lena: „Aber so werden sie reproduziert!“
Theresa: „Meine Kolleginnen und ich wollen keine passiven Frauen.“
Irgendwann schaltet sich Ostermeiers Dramaturg in die Diskussion ein. „Thomas, dann machen wir nur noch Männerstücke“, witzelt er. Die Männer lachen. Der Unterricht geht weiter, vermeintlich ohne Lösung. Doch im Theater gibt es kein richtig oder falsch wie in der Mathematik, kein Gesetz, was man nun inszenieren darf, soll oder muss. Die Schauspielerinnen und Schauspieler besprechen, welche Kritik sie nachvollziehen können, und proben die Szene erneut.
Der Konflikt, den die Frauen ansprechen, den auch Ostermeier sieht, dreht sich nicht nur um die Rolle der Gina Ekdal, die ihrem Ehemann Brote schmieren will. Er zeigt sich, wenn man vom Einzelwerk auf den Theaterkanon rauszoomt, auf Shakespeares Ophelia, Wedekinds Lulu, Sophokles’ Antigone – auf all die Frauenfiguren, die getötet werden oder sich selbst töten. Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte manifestiert haben, lassen sich nicht in fünf Minuten wegdiskutieren – das Einzige, was die Frauen machen können, ist, anders zu inszenieren.
Seit Beginn ihrer Studienzeit nutzen die Kommilitoninnen immer wieder diese Diskussionsstrategie: Sie schieben ihre Argumente ineinander und halten zusammen, bis sie hinter einer diskursiven Mauer stehen – auch wenn es Professoren und andere Studierende manchmal nervt. Denn man diskutiert nicht mit einer Person, sondern mit sechs.
So arbeiten sich die sechs Frauen an den großen Namen des deutschen Theaters ab: Bei Ostermeier halten sie im Unterricht dagegen. Bei Eidinger protestieren sie neben dem DJ-Pult. Der Name ihrer Klasse ist eine Reaktion auf Frank Castorf. Der war als Intendant der Berliner Volksbühne im Sommer 2018 von der Süddeutschen Zeitung gefragt worden, warum kaum Regisseurinnen bei ihm inszenierten: „Wir haben eine Frauen-Fußballweltmeisterschaft und eine Männer-Fußballweltmeisterschaft, und in der Qualität des Spiels unterscheidet sich das schon sehr.“ Als sie das lesen, nennen sich die Frauen HfS Ultras, wie fanatische Fußballfans, „Hooligans der Hochschule“, sagt Lena, die ehemalige Herrenschneiderin. Sie näht einen Stammtisch-Wimpel, mit Frakturschrift aus Ziegenleder. Theresa sagt: „Am besten sind wir, wenn wir ein gemeinsames Ziel, einen gemeinsamen Feind haben.“ Den gibt es aber nicht immer.
Die Anspannung
„Viele schauen auf die Busch. Das baut Druck auf. Das ist eine Schule mit einer krassen Struktur. Für mich war das am Anfang ein Schock. Ich musste wie eine Maschine funktionieren: Unterricht, Arbeit, Unterricht, Arbeit. Auf der anderen Seite hatte ich wegen meines Musikhintergrunds ein anderes Verständnis von Disziplin. Bei einer der ersten Proben habe ich mich gewundert, warum die Schauspielerinnen und Schauspieler den Text noch nicht konnten. Waren die faul? Nachher habe ich bemerkt: Bei der Partitur weiß man schon vorher, welcher Klang da ist. Bei den Schauspielern weiß man das erst auf der Bühne.“ Carolina de Araújo Cesconetto
Das Regie-Studium ist darauf angelegt, zu überfordern. Im ersten Jahr sind die Studentinnen wochentags von 9 bis 19 Uhr in der Hochschule, am Wochenende proben und lernen sie. Im zweiten Jahr reisen sie gemeinsam nach Wien, bekommen nach drei Wochen Theater-Workshop im Kopenhagener Dauerregen Lagerkoller und inszenieren an Jungs ehemaliger Hochschule in Seoul. „Die Studenten haben das Luxusproblem, zu viel Unterricht zu haben“, sagt Thomas Ostermeier. „Für Leute, die nebenbei arbeiten müssen, ist das der Horror.“
Alle sechs Studentinnen arbeiten nebenbei: Sie babysitten, kellnern, sortieren Briefe nach Postleitzahlen. Sie arbeiten 36 Stunden pro Monat in der Hochschulschneiderei oder als studentische Hilfskraft, engagieren sich als Gleichstellungsbeauftragte im Asta oder müssen ihre zweijährige Tochter aus der Kita abholen. In manchen Wochen sind sie gestresst, übermüdet und können nur einschlafen, wenn sie vorher ein Bier trinken.
„Viele warten darauf, wenn sie bösartig denken, dass die Frauen sich zerstreiten“, sagt Rektor Kluth. „Das ist nicht nur ein Frauenbild von Männern, sondern auch ein Frauenfrauenbild.“
Es ist allerdings auch das klassische Bild vom Regieführenden, ein genialischer, leicht soziopathischer Einzelkämpfer, der einsam von Inszenierung zu Inszenierung reist. Dabei hat es in der Theatergeschichte immer wieder erfolgreiche Kollektive gegeben, zuletzt etwa Rimini Protokoll, Gob Squad oder She She Pop. Auch an der Busch gab es schon lange vor den HfS Ultras ähnliche Gruppen: Die beiden Professoren Robert Schuster und Thomas Ostermeier, Kommilitonen des ersten Jahrgangs nach der Wiedervereinigung, sahen ihre Klasse damals als ähnlich eingeschworene Gruppe, erzählt Ostermeier. Sie schrieben Manifeste und Konzeptpläne für das Jenaer Theater. Doch ihr Kollektiv zerbrach. Ostermeier übernahm nach der Schule die Baracke in Berlin. Schuster leitete später mit dem Kommilitonen Tom Kühnel das Frankfurter Theater am Turm. Die meisten Regie-Jahrgänge zerfasern oder zerstreiten sich. Oft beginne das im dritten Hochschuljahr, „wenn die Angebote kommen“, sagt Professor Robert Schuster. Dann, wenn um die wenigen festen Stellen im Theaterbetrieb gekämpft wird, um die Aufträge, mit denen man mehr als nur die Miete zahlen kann.
„Wir haben eine Art Melodie, wie wir diskutieren. Irgendwann sagt eine immer: ‚Leute, wir müssen jetzt mal weiterarbeiten.‘ Es gehört für mich dazu, dass ich die anderen manchmal nicht sehen will. Da muss man durch. Man kann sich nerven und danach wieder zusammenfinden. Wir sind manchmal wie in einer Familie: Man kann sich total zoffen, aber man wird total unterstützt. Zwischen uns passt kein Blatt, das ist richtig krass.“ Sarah Claire Wray
Die Frauen diskutieren und streiten oft, erzählen sie. Der Unterschied: Sie zerstreiten sich nicht.
Ende April 2019. Sauen, ein Dorf in Brandenburg. Auf einem Gutshof inmitten von Mischwald und mit schlechtem Handyempfang arbeitet die Klasse mit Studierenden der Berliner Universität der Künste aus den Bereichen Szenisches Schreiben und Schauspiel. Sie arbeiten alle an eigenen Stücken. Bis spätabends tönen aus den Proberäumen Sprechchöre, Klaviergeklimper, Textfetzen. Theresa beendet als Letzte ihre Probe. „Ich will jetzt zu meinen Girls“, nuschelt sie, einen Filter zwischen den Lippen. Sie dreht sich eine Zigarette, zieht die Schultern hoch. Dann läuft sie in ihren spitzen Stiefeletten Richtung Mehrbettzimmer. Im ersten Stock, Zimmer 204, liegen die anderen auf ihren Betten, Sarah mit Handtuchturban um die nassen Locken. Sie trinken Bier, analysieren, lachen und lästern: Mich würden deine Spielaufgaben interessieren, der hat was mit der, boah, der Text, ey. Es herrscht Schullandheim-Atmosphäre, ein flirrendes Hin und Her über alles und nichts.
Die Studentinnen widerlegen eines der großen Missverständnisse der Kunst: dass die besten Ideen alleine entstehen. Sie verdeutlichen, wie viel mehr man sich traut, wenn man ein Gegenüber hat, dem man seine unfertigen Ideen offenbaren kann, um sie zu schleifen, bevor man sie in die Öffentlichkeit stellt.
Die HfS Ultras sind auch allein noch immer ein Team. Und nach außen treten sie stets geschlossen auf. So passiert etwas, bei dem man nicht genau sagen kann, wer es angestoßen hat. „Wenn man es aber andersherum als Schuldfrage formuliert – dann war es definitiv die Klasse“, sagt der Schulleiter Holger Zebu Kluth.
Die Chance
„Im Theater kann man weder reich werden noch sonst irgendeinen Blumentopf gewinnen. Ich möchte an diesem Ort politische Utopien verhandeln. Mein Wunsch: dass ich hinter dem, was ich mache, stehen kann. Und ein gewisses Maß an Freiheit, die sich aus den Produktionsbedingungen ergibt. Zu sechst würden wir gerne diese Freiheit erschaffen. Wenn man in der Gruppe arbeitet, steht zwar nicht nur der eigene Name auf dem Plakat. Darum geht es aber auch nicht. Es geht darum, gute Kunst zu machen.“ Josephine Witt
In Berlin schwelte seit knapp drei Jahren ein Streit um die Nachfolge von Frank Castorf, dem Intendanten der Volksbühne, der die HfS Ultras zu ihrem Namen inspiriert hatte. Da schlug der Regisseur Leander Haußmann Ende 2018 in der Süddeutschen Zeitung vor: „Warum holt man nicht diesen ganzen Schwung junger Frauen und sagt: Macht das jetzt mal!“ Daraufhin mailte die Klasse dem Berliner Kultursenator: „In einem Treffen mit Ihnen würden wir gerne unsere Vorschläge und Pläne zur Umsetzung einer neuen Ausrichtung des Hauses besprechen.“
Juni 2019. Die Studentinnen verhandeln mit der Volksbühne darüber, ob sie das Hochschultheater als eine Art Außenspielstätte der Volksbühne leiten könnten. Eine Riesenchance. Bei Lena in der Küche schreiben sie ein Konzept, entwerfen Spielpläne. Doch sie befürchten, dass es nicht nur um ihre Arbeit, sondern immer auch um ihr Geschlecht geht. Das nervt sie. „Hätten die uns gefragt, wenn wir nicht sechs Vaginas hätten?“, fragt Jung. „Ich denke nicht.“ Die Klasse fühlt sich, als würde sie vor einen „Quotenkarren“ gespannt. Nur: Warum sollten sie sich nicht vor einen Karren spannen lassen, wenn der in die Richtung fährt, in die sie aufbrechen wollen?
Am Ende verwerfen die Hochschule und die Volksbühne das Projekt, aus Planungs- und Kostengründen. Und: Ein Theater leiten, parallel zum Studium, mit riesiger medialer Aufmerksamkeit, das würde die Studentinnen zermalmen, fürchtet der Rektor.
Die Zwischenprüfung
Mitte Februar 2020. Im Neubau der Busch in Berlin-Mitte probt die Regie-Klasse für ihre Zwischenprüfung:
Carolina zeigt ein Stück über eine Maulwurf-Insel, eine Parabel über Populismus in der brasilianischen Politik.
Josephine mischt Texte der Cyborg-Feministin Donna Haraway mit der griechischen Tragödie von Medusa.
Jung arbeitet an einer Kollektiv-Performance über Rassismus und Sexismus in Deutschland.
Lena inszeniert ihre Schauspielerinnen und Schauspieler als Abgehängte der Gesellschaft, in Form von Tabakdosen und Feuerzeugen, die in einer Krams-Schublade aufeinandertreffen.
Sarah erzählt eine Art Klassentreffen in der klassischen Drei-Akt-Struktur, mit Performance-Aspekten und lyrischen Texten.
Und Theresa inszeniert Klaus Theweleits Männerphantasien, ein 1200-Seiten-Buch über Faschismus und toxische Männlichkeit. Sie setzt dabei Standardtänzer und einen Frauenchor in Biber-Kostümen ein. Die Studentinnen arbeiten sich alle auf ihre Weise am deutschen Sprechtheater ab.
Die Zukunft
„Für die meisten ist die Beleuchtungsprobe der totale Horror. Für mich ist es das Schönste. Dort kommt alles zusammen, was ich mir wochenlang nur vorgestellt habe. Im Licht und mit der Technik sind wir nicht mehr nur ein paar kleine Menschen, die zusammen etwas probieren. Plötzlich ergibt die Summe der Teile etwas. Dann leuchtet es. Dann können wir zaubern.“ Theresa Thomasberger
In ihrem finalen Studienjahr, 2021, sollen sie, so der Plan, gemeinsam das Hochschultheater, das Berliner Arbeiter-Theater in Prenzlauer Berg, leiten. Fünf Monate gemeinsame Intendanz, ihre Utopie auf Probe.
Doch das ist keine Garantie dafür, dass sie zusammenbleiben. Vielleicht zieht eine nach dem Studium weg, vielleicht bekommt eine ein Angebot. Vielleicht verblasst ihr Gruppengefühl, bis es irgendwann nur noch im Imperfekt existiert. Sie wissen das. „Es kann passieren, dass wir es nicht packen“, sagt Theresa. „Aber ich fände es schlimm, wenn wir missgünstig wären, sobald eine von uns erfolgreich total durch die Decke geht und die anderen nicht; wenn uns der Theaterbetrieb spaltet, nachdem die Schule es nicht geschafft hat.“ Schon jetzt haben sie in der Historie der Busch mindestens eine Fußnote hinterlassen, nicht als Frauenjahrgang, sondern weil sie als HfS Ultras mit ihrer uneingeschränkten Solidarität, mit ihren Diskussionen, mit ihren Aktionen die Hochschule verändert haben. Bald zeigen die Regie-Studentinnen als erster Jahrgang überhaupt alle gemeinsam ihre Stücke an der Volksbühne. Im Programmheft steht: „Eine Maßnahme von Cesconetto, Jung, Katzer, Thomasberger, Witt, Wray (HfS Ultras)“.
Text: Fiona Weber-Steinhaus
Fotos: Monika Keiler
Erschienen in ZEIT CAMPUS 03/2020
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