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Ich habe ein Lieblingsfoto meiner Großeltern: Sie schlendern frisch verliebt am Pier von Brighton. Sehr jung waren sie damals, die Haare meines Großvaters sind noch dicht und pechschwarz. Wenn ich dieses Foto anschaue, finde ich, dass er aussieht wie Sean Connery. Also, ein bisschen zumindest.

Sean Connery war für mich immer so etwas wie der hübschere Darsteller meines Großvaters in der imaginierten Verfilmung unserer Familiengeschichte. Mein Großvater Daniel wuchs in den Dreißiger- und Vierzigerjahren mit seinem Bruder Billy in Edinburgh auf, an der Grenze zum Arbeiterviertel Fountainbridge. Uncle Billy war ein Frühchen, so zart, dass meine Urgroßmutter ihn mit Olivenöl einrieb und so lange in Watte und Tücher wickelte, bis er kräftig genug für diese Welt war. In seiner Kindheit spielte er mit einem Jungen aus Fountainbridge mit leeren Dosen Fußball auf der Straße. Sie gingen zusammen zur Schule. Später polierten sie Särge bei einem Bestatter, um Geld zu verdienen. Dieser Junge war Sean Connery.

Uncle Billy verstarb vor meiner Geburt. Diese Geschichte hörte ich deshalb von meiner Mutter, meinen Großeltern oder meinen Tanten, immer wenn Connery im Fernsehen zu sehen war, also oft. Sie ist Teil unserer Familienlegende, die an skurrilen Geschichten nicht gerade arm ist. Mein Ururgroßvater zum Beispiel war als Teenager von zu Hause weggelaufen, nachdem er ein Mädchen geschwängert und seinen Fuß zwischen zwei Eisenbahnschienen verloren hatte. Er brachte es zum Brauereibesitzer, und in seinem Bad hing eine Schaukel, die meine Großmutter als Kind liebte. Und mein Urgroßvater arbeitete zeitweise als Pferdehändler und färbte seine Pferde mit Schuhcreme heller, um sie teurer als Schimmel zu verkaufen.

Vor allem die Frauen in meiner Familie sind gute Erzählerinnen. Wenn sie loslegten, war es, als ob das Alltagsgrau der Vergangenheit verblasse. Heute frage ich mich allerdings, wie dick die Scheibe Drama eigentlich ist, die ich bei allen Familiengeschichten abschneiden müsste, um zum wahren Kern vorzudringen. Denn als gute Erzählerinnen beherzigen sie nun mal einen Grundsatz: „Never let the truth get in the way of a good story“ – auf keinen Fall darf die Wahrheit einer guten Geschichte im Weg stehen. Sind Uncle Billy und Sean Connery also wirklich auf dieselbe Schule gegangen, oder sind da zwei Nachbarschulen verschmolzen? Haben sie zur selben Zeit Särge poliert oder vielleicht nur beim selben Bestatter gearbeitet?
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 47/2020. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.

Fast jede Familie trägt solche Geschichten über Generationen weiter. Die Urgroßmutter einer Bekannten verführte als New Yorker Showgirl Ernest Hemingway. Der Onkel einer Kollegin soll für einen Sänger eine Gitarre in die DDR geschmuggelt haben oder aus der DDR raus. Die Eltern meines Nachbarn haben mal auf den Pudelmischling von Otto aufgepasst, oder er auf ihren. Was diesen Geschichten gemein ist: Man weiß es meist nur so ungefähr. Ein Freund von mir rief als Kind in einer Radiosendung mit Hape Kerkeling an und erzählte, dass die Cousine seiner Oma Kerkelings Onkel geheiratet habe. „Wie hieß die Cousine denn?“, fragte Kerkeling. Nicht mal das fiel meinem Freund ein. Seine Mutter rief ihm aus dem Wohnzimmer zu: „Das ist Tante Ruth! Tante Ruth aus Toronto!“

Familienlegenden sind fragil in ihrem Wahrheitsgehalt. Allzu viele Nachfragen vertragen sie nicht. Aber sie sind wichtig, denn sie werden erzählt, damit sich die Familie ihrer selbst vergewissern kann. Deshalb geht es, wenn eine berühmte Person darin auftaucht, gar nicht um diese Person – sondern darum, dass die Familie das Gefühl hat, dass sie, wenn auch nur für einen Augenblick, Teil war von etwas Größerem. Klar also, warum die Connery-Geschichte unsere Lieblings-Familienlegende ist: Dieser haarige, muskulöse Mann, der sein „R“ rollte, als würde er in einer Seemannskneipe 20 Bier bestellen, der Scotland forever auf dem Arm tätowiert hatte, Sohn einer Putzfrau und eines Lastwagenfahrers, ist einer von uns und zugleich the sexiest man alive. Zufall, quasi. Mein Großvater sah, wie gesagt, genauso gut aus. Na ja, fast jedenfalls.

Sean Connery drehte 1967 einen Dokumentarfilm über die Werften in Glasgow. Er spricht darin auch mit meinem Großvater. Connery hatte sich gefreut, sich mit ihm an früher zu erinnern, erzählte mein Großvater. Kann gut sein, vielleicht aber auch nicht. Kurz nach dem Wiedersehen kaufte sich mein Großvater jedenfalls ein silberfarbenes Honda-S800-Cabriolet. Ein Auto wie aus einem Bond-Film.

Mein Großvater starb, als ich ein Teenager war. Am 31. Oktober, ich kam gerade vom Joggen, las ich auf meinem Handy die Meldung über Connerys Tod. Ich weinte, und zugleich war mir das peinlich. Ich kannte ihn ja gar nicht. Aber ich weinte, weil es sich anfühlte, als werde eine Verbindung zu den Geschichten meiner Familie gekappt. Denn vielleicht verschwindet mit der Generation meiner 94-jährigen Großmutter diese Magie des Erzählens. Und mit ihr eine märchenhafte Welt, in der dunkle Pferde weiß wurden, kleine Mädchen im Bad schaukelten und zwei Jungs aus einfachen Verhältnissen beim Särgepolieren möglicherweise davon träumten, etwas völlig anderes zu werden, vielleicht sogar der beste Geheimagent der Welt.

Text: Fiona Weber-Steinhaus
Foto: Bettmann / Getty Images

Erschienen im ZEIT MAGAZIN Nr. 47
12.11.2020