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Es könnten die letzten Prozesse sein, in denen sich Deutsche für ihre mutmaßlichen Taten während des Nationalsozialismus verantworten müssen: In diesen Wochen entscheidet sich, ob in Neuruppin ein 100-Jähriger vor Gericht kommt, der Wachmann im KZ Sachsenhausen gewesen sein soll. In Itzehoe prüft das Landgericht, ob es ein Verfahren gegen die 96-jährige Irmgard F. eröffnet, die Sekretärin des Kommandanten im KZ Stutthof war. Beide sind wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Gegen neun weitere mutmaßliche Wachmänner ermitteln die Staatsanwaltschaften Hamburg, Weiden, Neuruppin, Erfurt und Celle. Warum stellt man die greisen Gehilfen vor Gericht, während ihre Vorgesetzten in der Vergangenheit oft davonkamen? Geht es um Strafe? Um späte Gerechtigkeit? Wie ist es, heute noch bei einem mutmaßlichen Täter zu klingeln? Darüber wollen wir per Videokonferenz mit vier Männern reden, deren Lebensthema die Strafverfolgung von NS-Tätern ist: Thomas Walther, 78, brachte den KZ-Wachmann John Demjanjuk vor Gericht, dessen Verurteilung 2011 weltweit für Aufsehen sorgte. Walther, der mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, vertritt heute Holocaust-Überlebende als Nebenkläger vor Gericht, genau wie Cornelius Nestler, 65, Strafrechtsprofessor an der Universität Köln. Stefan Willms, 62, seit Februar pensioniert, ermittelte 26 Jahre lang für das LKA in Düsseldorf gegen NS-Täter. Oft arbeitete er mit dem Oberstaatsanwalt Andreas Brendel, 59, zusammen, der in Dortmund die Schwerpunkts-Staatsanwaltschaft für NS-Massenverbrechen leitet. Alle vier waren an fast allen NS-Prozessen der letzten Jahre beteiligt. Hier sprechen sie zum ersten Mal gemeinsam über ihre Erfahrungen.

ZEITmagazin: Ein Hundertjähriger auf der Anklagebank – beginnt so das letzte Kapitel der juristischen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in Deutschland?

Cornelius Nestler: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass es in einem dieser Fälle noch zu einem Prozess kommt. Die Strafverfolgung war einfach zu langsam. Vor ein paar Jahren wären die Beschuldigten vielleicht noch fit genug gewesen.

Thomas Walther: Der 100-Jährige ist laut Staatsanwaltschaft verhandlungsfähig.

ZEITmagazin: Trotzdem kann man sich das nur schwer vorstellen.

Andreas Brendel: In der Strafprozessordnung gibt es keine Altersgrenze. Die Grenze sind Tod oder Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten.

Stefan Willms: Während unserer Zusammenarbeit hat Herr Brendel mir ab und an Artikel gemailt, in denen eine Gemeinde einem 100-Jährigen zum Geburtstag gratulierte, und dazugeschrieben: „Es geht weiter!“ – im Sinne von: Es gibt in der Generation noch Frauen und Männer, die fit sind. Als ich 2013 von Ermittlungen in dem französischen Dorf Oradour zurückkam, wo am 10. Juni 1944 SS-Soldaten 643 Männer, Frauen und Kinder ermordet haben, war ich so aufgewühlt, dass ich gesagt habe: Egal wie alt die Täter sind – sie müssen jederzeit damit rechnen, dass ich an ihrer Tür klingele und sage: Wir haben was miteinander zu besprechen.

ZEITmagazin: Bei wie vielen haben Sie geklingelt?

Willms: Bei bestimmt mehr als 50 Männern. Herr Brendel war oft dabei, aber geklingelt habe immer ich.

Brendel: Ich bin als Staatsanwalt ja nicht bewaffnet. Und man weiß nie, was hinter diesen Türen passiert.

ZEITmagazin: Sie hatten tatsächlich Angst, dass jemand Sie angreifen könnte?

Brendel: Selbstverständlich.

Willms: Ich habe den Kollegen immer gesagt: Die Männer mögen zwar 80, 90 sein – aber die wissen, wie es geht. Die haben es möglicherweise schon gemacht

Lesen Sie das ganze Interview online: „Hat ein Täter mal vor Ihnen seine Schuld bekannt?“ „Nur einer“

Interview: Fiona Weber-Steinhaus und Anna Kemper
Fotos: Jasper Walter Bastian

Erschienen im ZEIT Magazin 29/2021