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Die Wintersonne scheint grell auf das Backsteingebäude des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese. Die Rechtsmedizinerin Dragana Seifert eilt die Treppen hoch zum Sitzungssaal 18. Ihre dunkelblonden Haare hat sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre changierenden Brillengläser sind noch dunkel von der Sonneneinstrahlung. An diesem Donnerstag Mitte Februar sagt sie als Gutachterin in einem Strafverfahren aus. Die Angeklagte: Eine Frau, 32 Jahre alt. Der Tatvorwurf: gefährliche Körperverletzung. Das mutmaßliche Opfer: ihre Tochter. Vor knapp zwei Jahren riefen Ärzte aus einer Kinderklinik an. Eine Zweijährige. Der Vater hatte sie vorbeigebracht. Die Diagnose: Krätze. Doch da waren auch Striemen, die nicht zur ansteckenden Hautkrankheit passten. Waren das Würgemale?
Was ein Mensch einem anderen antun kann – da kennt meine Fantasie als Rechtsmedizinerin keine Grenzen. Ein Kind hatte einen Keks gestohlen. Da haben die Eltern seine Finger so lange auf eine heiße Herdplatte gedrückt, bis diese schwarz-verkohlt waren. Einmal hatte ein Säugling in die Windel gemacht. Die Eltern haben ihn zur Strafe in kochendes Wasser gehalten. Die Haut war komplett weg. Das sind unvorstellbare Schmerzen. Kein Tier ist so grausam wie der Mensch.
In Hamburg muss jedes Kind, bei dem das Jugendamt eine Misshandlung vermutet, von Dragana Seifert und ihren Kollegen am Kinderkompetenzzentrum am Hamburger Universitätsklinikum untersucht werden. 2005 von Seifert mitgegründet, ist es die bundesweit erste und größte Untersuchungsstelle für Opfer von Gewalt in ganz Deutschland. Wohl kaum eine Ärztin untersucht mehr Kinder, die geschlagen, vernachlässigt, sexuell missbraucht wurden, als Seifert. Vergangenes Jahr waren es 879, etwas weniger als in den Jahren zuvor. Seifert kann erkennen, ob ein blauer Fleck, der für Laien nach Prügel aussieht, womöglich auch eine Spielplatzverletzung sein kann. Sie kann nachweisen, ob die Striemen am Schlüsselbein tatsächlich Würgemale sind; ob diese davon zeugen, in was für einer Hölle manche Kinder leben.
Online weiterlesen: „Kein Tier ist so grausam wie der Mensch“
Text: Fiona Weber-Steinhaus
Fotos: Paula Markert
Erschienen in ZEIT Magazin Online
27.03.2021