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Text: Fiona Weber-Steinhaus
Fotos: Frederike Hellwig

Erschienen im ZEIT Magazin 39/2022

Online hier zu lesen

21.09.2022

Niemand hat den Geschmack des vergangenen Jahrzehnts so geprägt wie Yotam Ottolenghi. Ein Gespräch mit dem israelisch-britischen Koch über das Ottolenghisieren eines Schnitzels, die Notwendigkeit von Käse und darüber, was er einmal der Queen serviert hat

Ein ungewöhnlich heißer Augusttag in London, es sind 26 Grad. Yotam Ottolenghi läuft in Turnschuhen durch sein Townhouse in Camden. Nur eine gelbe Saftpresse und eine KitchenAid-Küchenmaschine stehen auf der Arbeitsfläche neben seinem Herd. „Ich bin kein Gadget-Koch“, sagt Ottolenghi, „ich brauche nur Töpfe und meine Messer.“
Yotam Ottolenghi, 53, hat in den vergangenen zwanzig Jahren ein Kochimperium aufgebaut: fünf Delis und zwei Restaurants, alle in London, eine wöchentliche Kolumne im Guardian und eine in der New York Times, neun Kochbücher, allesamt Bestseller. Er gilt als der Mann, der vielen nicht gemüseaffinen Nationen nahegebracht hat, dass Auberginen und Blumenkohl mehr als verkochte Beilagen sein können.
„Stört es Sie, wenn ich während unseres Gesprächs Marmelade einkoche?“, fragt er und greift sich eine Schale mit Aprikosen. Sein Ehemann und die beiden Söhne, sieben und neun Jahre alt, verbringen einen Teil der Sommerferien in Nordirland, wo die Familie ein Haus hat. Und die Söhne brauchen neue Marmelade. Ob Ottolenghi der Reporterin für das Gespräch eine hübsche Eingangsszene liefern möchte oder seine beiden Söhne wirklich ihre Essenswünsche durchgegeben haben – egal, ein süßer Aprikosenduft zieht bald durch die Küche.
ZEITmagazin: Herr Ottolenghi, wie werden Sie die Marmelade ottolenghisieren?
Yotam Ottolenghi: Gar nicht, ich nehme nur Aprikosen und feinkörnigen Zucker, aber nicht viel, die Marmelade soll flüssig sein. Diesen Sommer haben wir meine Mutter in Israel besucht, im Garten steht ein Aprikosenbaum. Meine Kinder haben sich diese Marmelade gewünscht.

ZEITmagazin: Vor genau zehn Jahren erschien Jerusalem. Ihr damals drittes Kochbuch gilt in Deutschland als ihr Durchbruch: Seitdem stehen Tahini, Za’atar und Harissa auch in den Vorratsschränken von Menschen ohne Verbindung zum Nahen Osten. Ihr Nachname wurde zum Synonym für den Levante-Kochstil. Wann haben Sie begonnen, von sich selbst als Verb zu sprechen?
Ottolenghi: Vielleicht vor zwei, drei Jahren. Der Food-Kritiker Tim Hayward, der übrigens vorher in diesem Haus gewohnt hat, hatte in einem Financial Times-Artikel von to ottolenghi-fy geschrieben. Dann fiel mir auf, dass es häufiger verwendet wird. Ich stehe oft mit den anderen Köchen in der Testküche um ein Gericht herum und debattiere, ob es nun ottolenghi ist oder nicht.
ZEITmagazin: Und, was ist ottolenghi?
Ottolenghi: Das Bekannte zu entfremden. Eine Überraschung im Mund; der kurze, salzige Moment von Anchovis oder die Säure von Käse. Einen bestimmten Geschmack mit Gewürzen und Aromen zu umspielen. Das Gegenteil von ottolenghi ist für mich eine pürierte Karottensuppe. Gleichmäßige Textur, eintöniger Geschmack.
ZEITmagazin: Wie würden Sie denn ein Schnitzel ottolenghisieren?
Ottolenghi: Ich würde zur Panade Koriandersamen, Sesam oder Kümmelsamen hinzufügen. So hat man etwas Knuspriges, dazwischen den Geschmack der Gewürze. Statt der halben Zitrone, die man oft zum Schnitzel reicht, könnte man Zitronenscheiben grillen und den Saft auf dem Schnitzel ausdrücken; so hätte man einen leicht rauchigen Geschmack. Dazu ein Chutney oder einen Dip, wahrscheinlich auf Sahne- oder Joghurt-Basis.
ZEITmagazin: Und ein einfaches Gericht: Spaghetti pomodoro?
Ottolenghi: Da gibt es unendliche Möglichkeiten. Man könnte sich zum Beispiel dem indischen Subkontinent nähern. Für eine süße Säure würde ich Senfsamen und Curryblätter hinzufügen, Tamarinde, Bockshornklee. Oder man geht in Richtung Naher Osten, dann würde ich Kümmel nehmen und statt Basilikum gehackten Koriander und Feta drüberstreuen.
ZEITmagazin: Sehnen Sie sich auch mal nach einem Standard-Schnitzel oder nach Pasta?
Ottolenghi: Was ich koche und selbst esse, unterscheidet sich vollkommen. Wenn ich abends nach Hause komme und den ganzen Tag Ottolenghi-Gerichte probiert habe, möchte ich meistens etwas Simples essen: Reis mit Butter. Käse mit schwarzem Pfeffer. Ich glaube, man kann nur eine bestimmte Menge Geschmack an einem Tag vertragen, man braucht eine Balance. Meine Söhne mögen auch gar nicht so gerne Ottolenghi-Essen. Sie haben wie die meisten Kinder einen einfacheren Geschmack.
ZEITmagazin: Was kochen Sie dann für Ihre Kinder?
Ottolenghi: Im Alltag kocht mein Mann Karl. Er macht oft Tacos mit Gemüse, Avocado und Koriander. Oder asiatische Nudeln mit Gemüse, nicht zu intensiv. Ich bin für das Frühstück zuständig und mache für die Kinder Käse-Ei-Omelett oder weich gekochte Eier, dazu Gurke, Oliven und Brot, wie in meiner eigenen Kindheit in Israel. Ich esse allerdings nur dann mit, wenn ich erst spät in die Testküche muss.
ZEITmagazin: Sie sind in Jerusalem geboren. Ihr Stil ist der orientalisch-jüdischen und arabischen Küche entlehnt. Sie selbst sind allerdings gar nicht mit dieser Küche aufgewachsen.
Ottolenghi: Ich bin mit verschiedenen Einflüssen aufgewachsen. Mein Vater, der aus einer italienischen Familie stammte, hat viel Polenta, Pasta, Gemüse gekocht, in einer zurückhaltenden Art, ohne viele Gewürze – wirklich gar nicht ottolenghi. Kartoffeln hat er mit etwas Olivenöl, Rosmarin und Knoblauch in einem Topf angebraten. Er wusste genau, wie er mit dem Gemüse umgehen muss, hat viel mit Dampf und Hitze gespielt. Er hat immer mit einem Augenzwinkern gesagt, meine Mutter habe ihn korrumpiert und von der koscheren Küche abgebracht.
ZEITmagazin: Ihre Mutter hat deutsch-jüdische Wurzeln.
Ottolenghi: Sie hat oft Hausmannskost gemacht, langsam gegarten Kohl mit Schwein, Fleischklopse. Schinken hat sie beim nicht koscheren Fleischer gekauft. Ich bin sehr säkular aufgewachsen. Wir haben keine Regeln befolgt. Sie hat auch viele internationale Gerichte ausprobiert, zum Beispiel spanischen Gazpacho.
ZEITmagazin: Hatten Sie als Kind eine besondere Beziehung zum Kochen? Haben Sie viel in der Küche mitgeholfen?
Ottolenghi: Nein, eigentlich nicht. Sami Tamimi, mein Freund und Unternehmenspartner, mit dem ich Jerusalem geschrieben hatte, stand immer mit den Frauen am Herd, schnippelte und schaute, wie sie das Essen zubereiten. Ich habe nach dem Militärdienst in Tel Aviv Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Ich habe immer sehr gern gegessen, habe aber erst dann – wie ein typischer Student – mit dem Kochen begonnen, als niemand anderes mehr es für mich getan hat.
ZEITmagazin: Was wurde während des Studiums Ihr „signature dish“?
Ottolenghi: Mejadra, ein palästinensisches Gericht, sehr bekannt in Israel und anderen Ländern des Nahen Ostens. Die Linsen und den Reis habe ich oft in separaten Töpfen gekocht, die Zwiebeln ganz knusprig-karamellisiert gebraten und dann alles vermengt.
ZEITmagazin: Verlieren die Zwiebeln dann nicht ihre Knusprigkeit?
Ottolenghi: Schon, aber dafür bekommt man einen intensiven, karamellisiert-salzigen Geschmack. Für den Crunch kann man noch ein paar Zwiebeln drüberstreuen. Zu der Zeit hätte ich mir niemals vorstellen können, hauptberuflich zu kochen. Nach meinem Masterabschluss wollte ich promovieren. Was in meiner akademischen Familie auch nahelag: Mein Vater war Chemieprofessor, meine Mutter Direktorin einer Highschool. Ich liebte die Debatten und Diskussionen an der Universität, es passte zu meiner Vorstellung, dass ich ein Intellektueller werden könnte.
ZEITmagazin: Warum haben Sie sich umentschieden?
Ottolenghi: Dieses Gemeinschaftliche hatte mir an der Uni gefehlt. Akademische Arbeit erreicht nur einen ganz kleinen Kreis. Ich weiß noch, wie ich meine Masterarbeit über die Philosophie des fotografischen Bildes siebenmal in einem Copyshop ausdruckte und sie meiner Familie und engen Freunden schickte. Ich hatte daran ewig gearbeitet – und ich bin mir sicher, niemand von ihnen hat sie ganz gelesen. Kochen ist das genaue Gegenteil. Jeder hat Freude daran, gut zu essen; es verbindet Menschen.
ZEITmagazin: Mit dreißig Jahren haben Sie dann angefangen, professionell zu kochen.
Ottolenghi: Ich wollte eigentlich nur schauen, ob es mein Ding ist. In London habe ich neben der Kochschule abends und nachmittags in verschiedenen Restaurants gearbeitet. Die Neunziger waren eine aufregende Zeit. Die britische Küche, nach dem Zweiten Weltkrieg irgendwie vergessen, wurde gerade wiederentdeckt. Es gab viele tolle, aufregende Köche. Im The Capital, einem Michelin-Restaurant, habe ich in der Patisserie gearbeitet.
ZEITmagazin: Dort blieben Sie aber nur ein paar Jahre.
Ottolenghi: Die Küche war sehr traditionell französisch strukturiert, harte Arbeitszeiten, neun Uhr morgens rein, 23 Uhr abends raus – da passte ich einfach nicht rein. Ich habe danach mehrere Jahre im Kensington Palace gearbeitet, einem tollen Restaurant, aber auch traditionell in dem Sinne, wie Küchen funktionieren. Das war auch nicht das, was ich wollte.
ZEITmagazin: Jetzt arbeiten Sie mit acht Kollegen in der Testküche, mit einigen seit vielen Jahren. Sie arbeiten kollaborativ, die anderen Köche stehen auf dem Buchrücken als Co-Autoren. War das eine bewusste Abkehr von Ihrer Erfahrung in den Großküchen?
Ottolenghi: Vielleicht. Es ist entspannter, weil ich nicht die ganze Verantwortung trage. Ich liebe es, mit anderen zu arbeiten. Ich könnte das auch gar nicht anders, ich glaube, dass die Bücher überhaupt deswegen nur so lange erfolgreich waren. Die anderen Köche haben Wurzeln in Südamerika oder im Nahen Osten. Auch die Gerichte in den Restaurants sind die der jeweiligen Chefs – nicht meine.
ZEITmagazin: Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Debatten um kulturelle Aneignung von Gerichten. Das nahm teils ganz schöne Ausmaße an: Der Kochbuchautorin Alison Roman wurde vorgeworfen, sie hätte so getan, als hätte sie ein Gericht erfunden – das aber einfach ein Curry war, wie es in südasiatischen Ländern seit Jahrhunderten gekocht wird.
Ottolenghi: Die Menschen sind viel sensibler heutzutage, wenn es um Authentizität geht. Aber im Endeffekt ist es so: Gerichte gehören keinen Nationen, sie werden von Menschen weitergegeben. Man sollte Ursprung und Identität der Gerichte respektieren, recherchieren und darauf hinweisen. Ich fand es schon immer wichtig, zu erzählen, dass dieses Rezept von der Nachbarin und dieses von Samis Tante kommt. Als ich mit den Büchern anfing, meinte mein Lektor: Muss immer die ganze Geschichte zu den Rezepten? Ich finde: Ja.
ZEITmagazin: In Ihrer täglichen Arbeit probieren Sie andauernd neue Gerichte. Wie unterscheiden sich Essen und Probieren?
Ottolenghi: Eigentlich reichen zum Probieren zwei Bissen, mehr brauche ich nicht, um zu spüren, ob das Gericht stimmt oder ob noch etwas fehlt. Es ist etwas anderes, als zu essen. Für die Sinne ist es trotzdem irritierend: War das jetzt schon eine Mahlzeit? Habe ich nur Appetit, oder bin ich tatsächlich hungrig?
ZEITmagazin: In den letzten Jahren hat sich Essen zu einem eigenen Lifestyle entwickelt, zu einem Distinktionsmerkmal. Viel mehr Menschen schauen darauf, welches Essen gesund ist. Zucker gilt bei vielen als Suchtmittel. Zu viel Pasta am Abend als Ausnahme.
Ottolenghi: Ich will das Problem nicht kleinreden, viele Menschen sind stark übergewichtig, haben Diabetes – auch weil wir als Gesellschaft zu viel Süßigkeiten und Schokolade ausgesetzt sind. Wenn man sich aber Dinge verbietet, steigert man das Verlangen. Ich esse jeden Tag dunkle Schokolade, meine Kinder Milchschokolade, nicht viel, mal ein Stück, mal einen Riegel. Wer gibt seinen Kindern denn keine Schokolade?
ZEITmagazin: In einigen Kitas und Schulen in Deutschland, bestimmt auch in vielen Kreisen, die Ihre Bücher im Regal stehen haben, soll man keinen Geburtstagskuchen mit Zucker mitbringen.
Ottolenghi: Wirklich? Das ist in der Schule meiner Söhne nicht so. Natürlich ist zu viel Süßes schlecht für Kinder. Und, ja, in einer idealen Welt würden Kinder und Erwachsene jeden Tag nur ein Stück Obst nehmen. Aber mal ehrlich – das passiert ja nicht.
ZEITmagazin: Vor ein paar Jahren sagten Sie: „Es gibt wenig, was mich so sehr nervt, wie anderen Leuten zu sagen, was sie essen sollen – und gesagt zu bekommen, was ich selbst essen soll.“ Hat sich das geändert angesichts der Klimakrise?
Ottolenghi: Nein. Es gibt eine schlaue und eine dumme Art, dafür zu sorgen, dass Menschen ihren Lebenswandel ändern. Leute darauf hinzuweisen, was sie essen oder nicht essen sollen, führt nur zu Groll.
ZEITmagazin: Machen Sie es sich da nicht zu einfach? Sie haben ja wirklichen Einfluss.
Ottolenghi: Ich würde es eher überpragmatisch nennen. Es ist einfach nicht mein Stil, Leute bekehren zu wollen. Und ich glaube, dass es ineffektiv ist. Wir müssen Menschen eine gute Alternative zum Fleisch bieten – und die gibt es ja! Ich würde lieber sagen: Schaut her, was man mit diesen Gemüsen Wunderbares kochen kann. Das ist eine Win-win-Situation.
ZEITmagazin: In Jerusalem gibt es keine explizit veganen Gerichte. In den vergangenen zehn Jahren haben Sie in den anderen Büchern begonnen, vegane Alternativen aufzulisten. Was war der Grund dafür?
Ottolenghi: Ganz einfach: die Nachfrage. Immer mehr Menschen wollen vegane Optionen. Aber viele palästinensische Gerichte sind sowieso vegan, in Jerusalem hatten wir sie nur nicht explizit so gelabelt – allein Falafel hat sich ja zum Posterboy des Veganismus entwickelt.
ZEITmagazin: Können Sie sich vorstellen, vegan zu leben?
Ottolenghi: Auf keinen Fall! Ich kann ohne Probleme auf Fleisch verzichten, aber auf Käse? Er bringt Gerichten so viel, hat so viele verschiedene Geschmacksebenen. Auf Eier zu verzichten fände ich auch schwierig.
ZEITmagazin: Ihre Rezepte haben sich über die letzten Jahre dennoch verändert: Sie kochen weniger mit Fisch, in der Rezeptkolumne im Guardian kaum oder gar nicht mehr mit Rindfleisch.
Ottolenghi: Es ist einfach sehr schwer geworden, guten, nachhaltigen Fisch zu finden. Und: Die Guardian-Redaktion hatte uns ermuntert, die Rezepte für die Kolumne nachhaltiger zu gestalten. Ich würde niemals sagen: Leute dürfen keinen Fisch oder kein Rind essen. Aber ich muss sie nicht aktiv auf den Tisch stellen.
ZEITmagazin: Eine Kritik an Ihren Kochbüchern: Die Zutatenliste ist zu lang, die Gerichte sind zu komplex.
Ottolenghi: Meine Gerichte waren nie so hochkomplex, dass man sie nur in einer Profiküche nachkochen kann. Aber einen Teil der Kritik kann ich nachvollziehen. Zu Beginn habe ich ehrlich gesagt nicht sonderlich viel darüber nachgedacht, was es bedeutet, die Gerichte von Anfang bis Ende zu Hause nachzukochen. Das hat sich auch geändert, als ich selbst Vater geworden bin.
ZEITmagazin: Ist das der Unterschied zwischen Kochen und Abendessenmachen?
Ottolenghi: Genau. Das Buch Simple hat sich daraus entwickelt. Da sind auch nicht alle Rezepte superleicht – aber man kann sie vergleichsweise schnell kochen oder mit weniger als zehn Zutaten. Für mich als Rezepteschreiber ist es wichtig nachzuvollziehen: In welcher Situation werden die Gerichte gekocht? Ist das ein Essen für einen Mittwochabend für die Familie? Ist es für eine Dinnerparty?
ZEITmagazin: Was ist Ihr wichtigster Tipp, um für eine Dinnerparty zu kochen?
Ottolenghi: Nicht bei der Dinnerparty zu kochen. Das mache ich nie.
ZEITmagazin: Warum nicht?
Ottolenghi: Am allerwichtigsten ist ein entspannter Gastgeber. Wenn der Gastgeber gestresst ist, sich nur um das Essen sorgt, können die Gäste auch nicht entspannen und das Essen nicht genießen. Ich koche deswegen nie, wenn Gäste bei mir im Haus sind. Ich würde natürlich kurz vor dem Servieren einen Fisch schnell frittieren. Alles andere habe ich schon lange vorher vorbereitet. Wenn Gäste da sind, kann man Salate mischen, Soßen anrühren und drapieren. Aber richtig kochen ist wirklich eine schlechte Idee.

ZEITmagazin: Jemand kocht für Sie, aber es schmeckt nicht so richtig gut. Sagen oder nicht sagen?
Ottolenghi: Wenn man sehr eng befreundet ist, kann man natürlich anmerken: Ah, mit dem und dem Gewürz hat es letztens besser geschmeckt. Ansonsten würde ich nie etwas sagen. Das Kochniveau ist oft total nebensächlich; bekocht zu werden ist eine schöne Geste, es geht ums Geben und Teilen. Ich selbst bin gar nicht so wählerisch, ich würde fast alles essen.
ZEITmagazin: Sie kokettieren doch.
Ottolenghi: Nein, im Ernst. Geben Sie mir Mac’n’Cheese, egal was, ich würde es essen.
ZEITmagazin: Essen war schon immer politisch. Momentan gibt es Lieferprobleme wegen des Ukraine-Krieges. Die Gaspreise steigen. Die Lebensmittelpreise sollen in Großbritannien um 13 Prozent steigen. Sie persönlich wird es wahrscheinlich nicht direkt treffen – aber wie trifft es Ihre Restaurants?
Ottolenghi: Die trifft es massiv, dazu kommen ja auch noch der Brexit und Transportschwierigkeiten. Der Preis für Himbeeren ist um ein Drei- oder Vierfaches gestiegen, sagten mir die Chefköche. Also kamen dieses Jahr Himbeeren nicht infrage. Wir haben die Preise auch leicht erhöht. Aber dazu muss ich auch sagen: Der Durchschnitt der britischen Bevölkerung ist mit sehr viel größeren Problemen konfrontiert als unsere Gäste, die ja oft wohlsituiert sind. Wir müssen die Gerichte jetzt nicht großartig umstellen, mit Gemüse zu kochen ist eh günstiger, ich koche ja nie mit Hummer, Kaviar oder prime beef cuts.
ZEITmagazin: Man muss allerdings für Ihre Rezepte meist viele Gewürze kaufen: Sumach, Berberitzen, eingelegte Zitronen, Za’atar.
Ottolenghi: Wenn man die allerdings einmal hat, muss man sie so schnell nicht wieder kaufen.
ZEITmagazin: Aber wie gehen Sie selbst vor, wenn Sie ein neues Rezept entwickeln?
Ottolenghi: Es kann sein, dass ich in einem Restaurant ein Gericht mit Makrele und Pastinake probiere und merke, wie gut das zusammenpasst – dann überlege ich, wie ich das für mich abändern kann, welche Gewürze dazu passen. In der Testküche spielen wir das Assoziationsspiel. Jetzt gerade ist zum Beispiel Steinobst-Saison. Wir überlegen also: Was passt zu Aprikosen? Ziegenkäse! Sowieso passt Ziegenkäse zu Früchten. Wie bekommen wir dann noch eine andere Textur rein? Wir reden immer, bevor wir anfangen zu kochen.
ZEITmagazin: Können Sie überhaupt in ein Restaurant gehen und einfach genießen?
Ottolenghi: Früher habe ich schon obsessiv versucht herauszufinden, wie etwas gekocht wurde. Einmal war ich mit einem Freund in Hanoi und aß auf einem Markt ein fantastisches Austernomelett. Ich konnte nicht herausschmecken, wie der Koch dieses leicht sabschige Gefühl des Omeletts kreiert hatte, mit Stärke und Wasser? Ich habe es mehrmals nachzukochen versucht, mit dem Koch konnte ich nicht sprechen, es war einer dieser großen Märkte. Inzwischen bin ich besser darin, einfach zu genießen.
ZEITmagazin: Woran liegt das, meinen Sie?
Ottolenghi: Dass ich nicht mehr allein dafür verantwortlich bin, Rezepte zu kreieren, sondern mit den Kollegen in der Testküche arbeite. Kollaboration macht einem das Leben leichter, nimmt den Druck von den Schultern. Ich kann jetzt gut am Wochenende mit Freunden und meiner Familie ins Restaurant Imperial China gehen und Dim-Sum genießen. Die würde ich auch nicht selbst nachkochen.
ZEITmagazin: Ihre Restaurants haben auf dem Portal Tripadvisor überwiegend „exzellent“ als Bewertung. Eine wiederkehrende Kritik: zu viel Knoblauch. Keine Gerichte ohne Knoblauch. Sie würden nicht adäquat auf Menschen mit Knoblauchintoleranz reagieren.
Ottolenghi: Wirklich? Das wusste ich nicht. Also ja, es stimmt, wir nutzen wirklich viel Knoblauch, schwarzen Knoblauch, Knoblauch-Confit, gekochten Knoblauch. Wir versuchen, auf Leute mit Knoblauchintoleranz, die gibt es ja wirklich, einzugehen, aber wer wirklich keinen Knoblauch mag – vielleicht wird der bei uns tatsächlich nicht so glücklich.
ZEITmagazin: Was ist Ihr Trick, um den Knoblauchgeschmack loszuwerden? Petersilie essen?
Ottolenghi: Ich habe keinen. Ich liebe Knoblauch. Und wenn alle am Tisch davon essen, ist es doch egal, wenn man eine Knoblauchfahne hat. Wir fahren im Sommer oft nach Griechenland, eines unserer Lieblingsrestaurants macht ein wunderbares Gericht aus vier Zutaten: Olivenöl, hauchdünn gehobelter Knoblauch und gedünstete Zucchini. Darauf noch mal gehobelter roher Knoblauch, Oregano, noch mal Olivenöl. Das ist so dermaßen knoblauchlastig, das könnte ich wirklich nicht in unserem Restaurant anbieten.
ZEITmagazin: Sie haben nicht nur Bücher geschrieben und Kolumnen, sondern auch Dokumentationen und Fernsehreportagen gedreht, Sie machen Werbung für Lego, haben einen Podcast gehostet, bald gehen Sie auf Kochtournee. Gibt es etwas, bei dem Sie denken: Das ist mir zu blöd?
Ottolenghi: Ich hasse Kochshows, die wie Wettbewerbssport aufgebaut sind. Die zerstören für mich den Kern des Kochens: die Gemeinschaft.
ZEITmagazin: Sie waren allerdings auch schon zweimal Gastjuror bei der Fernsehshow MasterChef Australia.
Ottolenghi: Das stimmt. Aber bei MasterChef kochen die Menschen gemeinsam und lernen etwas, es geht da tatsächlich um Gemeinschaft. Die meisten Fernseh-Kochshows finde ich aggressiv und kompetitiv.
ZEITmagazin: Werden Sie denn als Juror angefragt?
Ottolenghi: Andauernd. Ich werde auch oft gefragt, ob ich bei Menschen zu Hause kochen würde. Da sage ich auch immer ab. Ich habe so viel zu tun, dass ich mir genau überlege, was ich machen möchte. Außerdem wollte ich, nachdem die Kinder kamen, abends nicht mehr so viel unterwegs sein.
ZEITmagazin: Einmal haben Sie für die Queen gekocht.
Ottolenghi: Fast. Es gab ein Riesen-Event zu ihrem diamantenen Thronjubiläum in der Royal Academy of Arts. Mehrere Köche zeigten, was sie so machen. Wir kreierten ein klassisches Ottolenghi-Display, große Salate. Vorher bekam ich noch ein Protokoll, wie ich mich zu verhalten habe.
ZEITmagazin: Hat die Queen Ihr Essen probiert?
Ottolenghi: Nein. Sie hat wohl nie gegessen, wenn Kameras um sie herum waren. Aber sie sagte: „Das sieht ja wunderschön aus; sind Sie der Koch?“