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Vor drei Jahren saßen wir an einem warmen Sommerabend bei einer Freundin auf dem Balkon und tranken Wein. Sie beugte sich über den Grill und rief gedankenverloren einen Satz über ihre Schulter in unsere Richtung und die ihrer Tochter, der im Nachhinein wie eine Triggerwarnung für mein zukünftiges Leben klingt. Damals konnte ich sie allerdings noch nicht entziffern.

„So, ihr Mäuse – Essen ist fertig!“

Mein Freund und ich lachten an dem Abend.

Dann wurde ich schwanger.

Während der Geburt rief die Hebamme vom Fuße der Krankenhaus-Liege, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, anfeuernd zwischen meine Beine: „Komm, kleine Maus! Du schaffst das!“

Einen Tag später sagte die Ärztin zum inzwischen geborenen Kind: „Naaaaa, du bist ja ein süßes Mäuselchen.“ Bei der nächsten Visite: „Ja hallooooo, du Mäuselchen. Ja halloooo, du kleine Maus – jaaa, da schauen wir mal dein Köpfchen an.“ „Das ist aber eine ganz süße Maus!“, sagten Passanten, die sich über den Kinderwagen beugten. Einzig der Kinderarzt, ein sehr netter Mann im Karohemd, sagte bei der U3-Untersuchung vier Wochen nach der Geburt: „Guten Tag. Können Sie Ihr Kind bitte ausziehen?“

Natürlich, alle Krankenschwestern, Hebammen, Kinderärzte, Erzieher, baby-walz-Mitarbeiter müssen sich eine Strategie überlegen, wie sie Eltern das Gefühl geben, dass deren kleine Emma, Lina, Lale, Dima, Max, Tim und Tom und wie sie alle heißen, natürlich ein Wunder der Natur sind und sowieso ein großes Glück – für sie ist es aber ehrlicherweise auch eben eines von vielen Hundert Menschlein, mit denen sie jeden Tag zu tun haben und die halbwegs gleich aussehen: feine bis wenig Haare, verkniffene Augen, verdätschtes Gesicht, groß wie ein XL-Subway-Sandwich.

Warum aber dieses inflationär verwendete Synonym für Baby, warum nicht ein bisschen öfter die kleine Motte, der Spatz, das Spätzchen, der Schatz, das Schätzchen, das Entlein oder, für alle, die mögen, Bärchen? Okay, Schatz klingt eher nach Partnerin. Baby, der englische Terminus für Säugling, ist als Kosename nun doch eher unpassend für das eigene Kind. Doch wie war es zu dieser vollkommenen Bemausung meines Umfeldes gekommen? Hatten alle verdrängt, dass Hausmäuse, so niedlich sie auch aussehen, als Ungeziefer gelten? Dass sie Salmonellen, Typhus und Toxoplasmose übertragen, wenn sie in der Wohnung herumhuschen? War es der popkulturelle Mausüberfluss, die konstante Berieselung von mehreren Generationen durch die Sendung mit der Maus, Mickey und Minnie Mouse, Johnny Mauser, Feivel, den Mauswanderer, Bernard und Bianca oder Basil, den großen Mäusedetektiv? Oder hatte ich es einfach vorher immer überhört?

Denn es waren nicht nur die Baby-Experten. Marie Nasemann, Influencerin und Model, schrieb zur Geburt ihrer Tochter: „Die kleine Maus hat unsere Familie komplett gemacht.“ Ilka Seeler sagte vergangenes Jahr über ihren inzwischen verstorbenen Ehemann Uwe: „Er ist mein Mäuschen, und ich bin seins.“

Die Reality-TV-Teilnehmerin Jessica Paszka erzählte in ihrer Insta-Story über das Kind in ihrem Bauch: „Das Allerwichtigste ist, dass ich meine kleine Maus die ganze Zeit spüre.“

Ein Finanz-Podcast für Familien heißt – na, raten Sie mal: „Meine Mäuse“. Und wer einmal in die schlimme Welt der Online-Schwangerschaftsforen hinabgestiegen ist, dem klingeln von den vielen Mäusen eh die Ohren.

Wäre es bei diesem Befremden geblieben, würde dieser Text hier enden. Aber dann wurde auch ich von der Vermausung infiziert.

Es begann ironisch. Vielleicht ist das Gehirn von jungen Eltern anfällig für dumme Ideen und das Humorniveau auf Niedrigstand. Als wir die venezolanische Schwieger-Großmutter besuchten, gurrte sie das Kind in eine konstante Wortwolke von Liebkosungshymnen: „Ay que lindaaaaaa, que preciosa, mi princesa – mi reina – mi amor – ayyy – que linda.“ Weil ich es so warmherzig-absurd-lustig fand, imitierte ich sie und sagte spaßeshalber auf Spanisch: kleine Maus. Dann auf Deutsch. Wir lachten. Der Urlaubswitz rutschte in den Alltag. Wenn ich nach Hause kam, fragte ich meinen Freund: „Und, wie geht’s der kleinen Maus?“ Dann sagte ich immer öfter: „Hallooooo, du kleine Maus.“ So schlitterte ich, die ich immer etwas versnobt auf alle Mausis geschaut hatte, in die Falle.

Die Maus sickerte in meinen Sprachgebrauch, die Ironie war längst über Bord gegangen, niemand flachste mehr herum, ich konnte mich nicht dagegen wehren, bis ich irgendwann an dem Punkt war, an dem ich vollkommen ernsthaft – an dieser Stelle muss ich kurz innehalten, denn ich geniere mich, das Folgende zu schreiben, aber nun ja, also –, an dem ich mindestens einmal am Tag frage, quasi eine der key questions in meinem neuen Leben als Mutter, ohne Ironie, vollkommene Sachebene: „Hat die kleine Maus schon Kacki gemacht?“

Ich habe den Kampf gegen die Vermausung aufgegeben. Ich blicke inzwischen mit Frieden auf all die anderen Eltern mit ihren süßen Mäusen. Vielleicht hatten sie es sich auch anders vorgestellt. So wie ich. Ich verstehe inzwischen: Da kommt man nicht mehr raus. Die Kinder bleiben einfach die Mäuse, auch wenn sie fünf Jahre alt werden oder volljährig.

Vor ein paar Monaten klingelte das Telefon. Ein Freund aus Berlin. Das letzte Mal hatte ich ihn vor der Pandemie gesehen. „Wie geht’s dir? Und wie geht’s …“ Er stammelte und räusperte sich. „Ach Mist (in Wahrheit sagte er ein unflätigeres Wort). Es tut mir leid, ich habe vergessen, wie euer Kind heißt.“ So viele seiner Freunde hätten so viele Kinder bekommen, und wenn er die noch nie gesehen habe, könne er sich all die Namen einfach nicht merken.

„Kein Problem“, sagte ich. „Wenn du dich an den Namen nicht erinnerst, frag einfach: Und – wie geht’s eurer kleinen Maus?“

Text: Fiona Weber-Steinhaus
Illustration: Felix Bork
Erschienen in ZEIT Magazin 41/2022

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